Ablehnung einer Doppelresidenz (7:7 Übernachtungen) aus Kindeswohlgründen, wobei eine Umgangsregelung 8:6 Übernachtungen dem Kindeswohl entspricht


KG Berlin
Aktenzeichen: 18 UF 15/17 vom 13.09.2017
Veröffentlicht in

 

Tenor / Inhalt der Entscheidung

Leitsatz von doppelresidenz.org:

Ein Umgang 8:6 Tage entspricht bei streitenden Eltern dem Kindeswohl eher als ein Umgang 7:7 Tage. Dies folgt einem Kontinuitätsgedanken, wenn der Vater vorher weniger in der Betreuung involviert war, auch wenn sich das Kind einen deutlich umfangreicheren Umgang mit seinem Vater wünscht.

 

Kommentar von doppelresidenz.org

Die Ausgangssituation

 

 

Die Eltern des seinerzeit 7-jährigen Kindes stritten um den Betreuungsumfang. Während die Mutter maximal eine wie bisher gelebte Betreuung durch den Vater an 4 von 10 Tagen gewähren wollte, wollte der Vater seine Tochter zu gleichen Teilen im wöchentlichen Wechsel betreuen. Dies wurde durch das Kammergericht, mit teils abenteuerlichen und kaum mehr nachvollziehbaren Begründungen, abgelehnt. Entschieden wurde die Frage der Doppelresidenz hier im Umgangsverfahren, analog der BGH-Entscheidung aus Februar 2017.

 

Die Beschleunigung kindschaftsrechtlicher Verfahren

 

 

Erst nach 7 Monaten wurde ein Anhörungstermin anberaumt und abgehalten, ohne das aus dem Beschluss ersichtlich ist, dass in der Zwischenzeit verfahrensbeeinflussende Handlungen erfolgt sind. Angesichts des Beschleunigungsgrundsatzes, welche vor allem zur Entlastung der Kinder auch seitens des EGMR mehrfach eingefordert wurde, ist eine solche Verfahrensdauer ohne erkennbare Ermittlungen zumindest verwunderlich, gelten die Regelungen des §155 FamFG doch auch für die Beschwerdeinstanz.

 

Der Verfahrensverlauf

 

 

Die Tochter hatte im amtsgerichtlichen Verfahren angegeben, dass sie deutlich mehr Zeit mit ihrem Vater verbringen möchte. In der Anhörung vor dem Kammergericht hatte die Tochter angegeben, dass sie sich wünsche, dass der Streit der Eltern aufhöre und ein Tag mehr oder weniger kein großer Unterschied sei. Das Kind hat aber selbst seine Sorge geäußert, „dass der Streit der Eltern dazu führen könnte, dass sie zukünftig wieder weniger Zeit mit ihrem Vater verbringen dürfe“. Dieser Wunsch des Kindes wurde geäußert, nachdem sie bereits aufgrund der amtsgerichtlichen Entscheidung in einer 8:6 Tage-Konstellation lebte. Die Mutter stimmte, nachdem sie auch in der Beschwerde zuerst die Beibehaltung der 4:10-Regelung bereits über die Aussetzung der Vollstreckung des erstinstanzlichen Beschlusses erreichen wollte, erst in der mündlichen Anhörung einer 8:6-Regelung zu und sah sich erst dort in der Lage, diesen Betreuungsumfang künftig auch gegenüber der Tochter vertreten zu können. Eine 7:7 Tage-Regelung könne sie sich vorstellen, wenn sich die Beziehung [zum Vater?] mit Hilfe der Familienberatung gebessert habe und das Kind etwas älter und selbständiger sei.

Das Kammergericht führt in seiner Begründung u.a. aus „Unter Berücksichtigung dieser Kriterien entspricht die geteilte Betreuung durch beide Eltern im Vergleich mit anderen Betreuungsmodellen dem Kindeswohl im konkreten Fall nicht am besten, vielmehr sollte Exx , wie es ihrem Wunsch entspricht, zwar deutlich mehr Zeit mit ihrem Vater verbringen, als dies bei einem erweiterten Wochenendumgang der Fall ist, andererseits soll insofern für Exx  Kontinuität gewahrt werden, als der Schwerpunkt ihres Aufenthalts derzeit weiterhin im Haushalt der Mutter liegt.

Das Kammergericht leitet also aus einem Betreuungsverhältnis von 42:58% (oder unter Einbeziehung der Ferienzeiten vermutlich noch größeren Betreuungsanteil des Vaters) einen aus Kindeswohlgründen erforderlichen Aufenthaltsschwerpunkt des Kindes ab. Wissenschaftlich belegbar ist eine solch „absolute“ Sicht nicht.

Als weiterer Grund wird die Entfernung zwischen den Wohnorten genannt. Die Eltern leben in Berlin im selben Bezirk. „Exx könnte vom Wohnort des Vaters zu Fuß ihre Schule erst in einer knappen Stunde erreichen. Vom Wohnort ihrer Mutter beträgt der Fußweg lediglich 10 Minuten, mit dem Fahrrad ist die Schule von dort in 4 Minuten zu erreichen. Der Schulbesuch vom Wohnort des Vaters aus macht zwingend einen Transport von und zur Schule erforderlich. Auch wenn derzeit Exx, wie sie dem Senat berichtet hat, auch von ihrer Mutter mit dem Auto gebracht und abgeholt wird, ist zu bedenken, dass Exx knapp 8 Jahre alt ist und in nächster Zeit eine deutliche Entwicklung hin zur Selbstständigkeit zu erwarten ist. Das Kind wird lernen, unabhängig von den Eltern Teile des Lebensalltags zu meistern und kann so eigene Erfahrungen machen. Seinen Wohnort in Schulnähe zu haben, hat für das Kind darüber hinaus den Vorteil, sich mit Schulfreunden, die regelmäßig auch in räumlicher Nähe zur Schule wohnen, auch außerhalb der Schule treffen und so auch Freundschaften in der Freizeit entwickeln und pflegen zu können, ohne von der Begleitung von Eltern abhängig zu sein.

Zu erfahren ist aus dem Beschluss lediglich, dass das Kind vom Haushalt des Vaters eine Stunde Fußweg hätte – dies dürften bei mittlerer Geschwindigkeit ca. 3 km sein. Mit dem Fahrrad ist die Entfernung für ein Kind in ca. 10 – 12 Minuten zu bewältigen sein, der Berliner Nahverkehr ist zudem sehr gut ausgebaut. Dass das Kind aufgrund dieser anscheinend doch sehr geringen Distanz-Differenzen zwischen den Wohnorten der Eltern nicht am sozialen Leben mit Klassenkameraden sollte teilnehmen können ist nicht nachvollziehbar, wohnen doch sicherlich auch nicht alle Klassenkameraden in unmittelbarer Nähe der Schule. Schulen haben in der Regel ein größeres Einzugsgebiet, welches Eltern und Kinder dann auch zu bewältigen wissen. Hierauf eine Kindeswohl-basierte Argumentation aufzubauen erscheint mehr als fragwürdig.

Fragwürdig ist dies vor allem noch aus einem anderen Grund. Das Kind verbringt bereits 6 von 14 Tagen und damit auch mindestens 4 Schultage je Umgang beim Vater. Auch dort muss die Entfernung zur Schule überbrückt werden. Dies stellte für das Kammergericht aber anscheinend kein Problem dar. Warum sollten 4 Schultage mit rund 3 km Entfernung kein Problem darstellen, 5 Schultage mit dieser geringen Entfernung aber dem Kindeswohl widersprechen? Eine Antwort darauf bleibt das Kammergericht schuldig.

Gleiches gilt für den Streit zwischen den Eltern, welcher im Verlauf des Beschwerdeverfahrens offensichtlich weiter eskaliert ist. Es wird dazu ausgeführt: „so trägt die Mutter in der Beschwerdebegründung vor, der Vater habe ein schwerwiegendes Persönlichkeitsstörungsproblem. Der Vater weist seinerseits die Mutter im Anhörungstermin vor dem Senat darauf hin, dass Exx eigentlich, nachdem sie ihn während seiner Zeit in Rxx so wenig gesehen hatte, angeblich am liebsten ganz bei ihm leben wollte, wobei der Senat zu seinen Gunsten unterstellt, dass er dies tat, ohne dabei zu bedenken, welche Gefühl, ja Verletzungen er bei der Mutter mit solchen Äußerungen auslöst.

Während der Senat intensiv auf die Gefühle und Verletzungen der Mutter eingeht, nur weil dieser, aufgrund der festgehaltenen Äußerungen der Tochter durchaus möglich erscheinenden Äußerungen wiedergibt, scheint er völlig übersehen zu haben, das die Mutter dem Vater eine psychische Störung unterstellt. Welche Gefühle und Verletzungen eine solche Aussage beim Vater hervorgerufen haben könnten und welches Bild die Mutter der Tochter mit dieser Einstellung möglicherweise vom Vater vermittelt, blieb völlig unberücksichtigt. Das es sich hier um eine einseitige Positionierung des Senats zugunsten der Mutter gehandelt hat scheint nahe zu liegen, ohne dies jedoch mit Sicherheit feststellen zu können. Zumindest hätte das Gericht im Rahmen seiner aus §26 FamFG erwachsenden Amtsermittlungspflicht diesem Vorwurf sachverständig nachgehen müssen, da eine Persönlichkeitsstörung eine deutliche Einschränkung der Erziehungsfähigkeit hätte bedeuten können, welche dann für die zu treffende Entscheidung kindeswohlrelevant hätte sein können. Auf der anderen Seite wären unberechtigte Vorwürfe durchaus ein Indiz für eine mangelnde Erziehungseignung eines Elternteils (BGH XII ZB 158/05, RZ 18).

Nicht mehr nachvollziehbar ist, dass das Gericht ausschließlich dem Vater Einschränkungen in der Wahrnehmung der Bedürfnisse seiner Tochter unterstellt, da er an einer 7:7-Regelung festhielt. Zwar ist dem Senat zuzustimmen, dass die Tochter ein Ende des Streits wünschte. Unzweifelhaft und auch vom Senat betont, wünschte sich die Tochter jedoch deutlich mehr Zeit mit ihrem Vater und hatte Sorgen, diese zukünftig weniger zu sehen. Ganz offensichtlich war es die Mutter, die diesem Wunsch nicht folgen wollte und erst in der Anhörung einer 8:6-Lösung zustimmen konnte. Weshalb die Mutter einer 7:7-Lösung in Form einer paritätischen Doppelresidenz, welche ebenfalls eine Beendigung des Streits der Eltern bedeutet hätte, nicht zustimmen wollte, wurde seitens des Senats offenbar nicht hinterfragt und im Beschluss nicht gewürdigt.

Exx hätte sicher nichts dagegen gehabt, gleich viel Zeit bei ihrem Vater wie bei ihrer Mutter zu verbringen“ lautet eine weitere Feststellung im. Der Vater hatte das Bedürfnis seiner Tochter nach mehr Zeit mit ihm erkannt und wollte dies für die Tochter auch ermöglichen, die Mutter hingegen nicht. Hieraus ausschließlich dem Vater aufgrund seines Verhaltens Erziehungseinschränkungen zu unterstellen ist nicht nachvollziehbar, wie so vieles in diesem Beschluss. Die Eltern konnten keine Einigung erzielen – genau aus diesem Grund hatten sie ja das Gericht angerufen. Das Interesse des Vaters, mehr Zeit mit seiner Tochter zu verbringen, wurde von dieser bestätigt. Der Antrag des Vaters war also durchaus im Interesse des Kindes.

Bezeichnend ist auch der Schlusssatz des Beschlusses: „Denn nicht aufgrund der Tatsache, dass der Vater das paritätische Wechselmodell mit der Beschwerde verfolgt, wird auf eine unzureichende Orientierung am Kindeswohl geschlossen. Entscheidend ist vielmehr, dass der Vater, nachdem die Mutter eine Beibehaltung der Ausweitung des Umgangs auf 8:6 Tage akzeptiert hat und das Kind deutlich gemacht hat, dass es zwar auch gern einen Tag mehr beim Vater wäre, aber genauso glücklich mit der derzeitigen Regelung sei und nur mehr ein Ende des Streits wolle, an der Durchsetzung des Wechselmodells trotz dieser Entwicklung im Laufe des Beschwerdeverfahrens festhält.“

Der Senat hat selbst erkannt, dass das Kind auch mit einer 7:7-Lösung glücklich gewesen wäre, auch dies also im Interesse des Kindes gewesen wäre und angesichts der Umstände auch der Konkordanz der Grundrechte beider Eltern und des Kindes entsprochen hätte. Der Senat blieb in seiner Begründung jedoch bei der Feststellung, dass ausschließlich der Vater nicht kindeswohlorientiert gehandelt hätte. Welche Motive die Mutter verfolgte, indem sie für sich ein minimales zeitliches Übergewicht in der Betreuung beanspruchte, wurde nicht hinterfragt. Ob die Motivation der Mutter angesichts ihrer vorherigen Verweigerungshalten gegen den klar geäußerten Wunsch der Tochter hier ausschließlich vom „Kindeswohl“ geleitet war, könnte durchaus in Zweifel gezogen werden.

 

Fazit

 

 

Die vorliegende Entscheidung verdeutlicht das Dilemma: um eine Doppelresidenz zu verhindern reicht es bereits aus heftig zu streiten, solange das Kind überwiegend beim streitenden Elternteil lebt.

Die Vorwürfe der Mutter haben den Streit zwischen den Eltern angefacht, darunter litt das Kind. Der Erfolg wurde durch das Kammergericht geliefert und bietet somit leider einen Freibrief, auch in weiteren Verfahren aus verfahrenstaktischen Gründen zu streiten. Für eine Deeskalation des Elternstreits ist eine solche Sichtweise der Gerichte nicht nur kontraproduktiv (siehe auch Markus Witt, Im Zweifel für die Doppelresidenz, Abs. XI Der Elterliche Streit und die Frage der Doppelresidenz), sie fordert den Streit geradezu heraus und ist damit Kindeswohlwidrig. Damit erreichen die Gerichte genau das Gegenteil von dem, was im Interesse der Kinder wäre. Der Beschluss lässt zumindest die Vermutung zu, dass sich die Richter hier nicht ausschließlich vom Kindeswohl, sondern evtl. auch von anderen Ansichten gegen die Doppelresidenz leiten ließen, wie dies bis zur BGH-Entscheidung XII ZB 601/15 auch zur Frage „gegen den Willen eines Elternteils“ oder der grundsätzlichen Anordenbarkeit feststellbar war.

Die Entscheidung offenbart auch ein weiteres Problem: das „Kindeswohl“. Kein Gutachter oder Verfahrensbeistand wird sicher feststellen können, ob ein Tag mehr oder weniger dem Kindeswohl zuträglich ist oder nicht. Beantwortet werden kann vermutlich lediglich, ob ein Umgang generell angezeigt ist oder ob z.B. aufgrund großer Entfernungen nur eine Wochenendbetreuung umgesetzt werden kann. Wie im vorliegenden Fall minimale Zeitunterschiede absolut mit dem „Kindeswohl“ zu begründen, lässt eher Zweifel an der Eignung des Kindeswohlbegriffes in diesem Fall aufkommen, zumal Richter für die Beurteilung eines derart komplexen Begriffes wie „Kindeswohl“ keine spezielle Ausbildung erhalten.

Es sei der Familie und vor allem dem Kind zu wünschen, dass es zukünftig zu einer Entspannung und dann zu der von der Mutter angekündigten Möglichkeit der Einrichtung einer paritätischen Betreuung kommen wird. Angesichts der Praxiserfahrungen in ähnlichen Fällen sind hierbei jedoch berechtigte Zweifel angebracht. An den Status des hauptbetreuenden Elternteils sind im momentanen Familienrechts noch zu viele kindeswohlfremde Anreize geknüpft die Streit provozieren und wenig dazu motivieren, eine gleichberechtigte Elternschaft auf Augenhöhe zu leben.

 




Zuletzt geändert am 05.04.2018 um 12:34

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