Wenn Oma und Opa ausgedient haben



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Wenn Oma und Opa ausgedient haben
Von heute auf morgen kann Großeltern der Kontakt zu den Enkeln verweigert werden / Selbsthilfegruppe bestärkt: Ich muss mich nicht schämen
Von Kirsten Westhuis
Wenn Senioren zusammen- treffen, ist es meist eines der ersten Themen: Was machen die Enkel. Mit Begeisterung und Liebe kümmern sich Oma und Opa – und ebenso viel Be- geisterung und Liebe bekom- men sie von Kleinen zurück. Wenn es gutgeht.
„Von einem Tag auf den anderen durfte ich nicht mehr vorbeikom- men“, erzählt Marianne Winter. Sechs Jahre lang hatte sie die bei- den Kinder ihres Sohnes betreut. „Ich weiß wirklich nicht, was ich getan habe“, sagt die 71-Jährige aus einem kleinen Ort an der El- be in Niedersachsen. „Es muss ja etwas Schlimmes gewesen sein, dass mein Sohn und meine Schwiegertochter mir die Kinder entziehen. Aber sie reden einfach nicht mit mir.“ Marianne Winter, die ihren richtigen Namen nicht nennen möchte, ist den Tränen nahe. „Ich schäme mich.“ In ih- rem Bekanntenkreis weiß nie- mand von dem Kontaktabbruch. Aber sie fährt an jedem ersten Samstag im Monat nach Lüne- burg und trifft sich dort mit an- deren, denen es ähnlich geht, zur „Selbsthilfegruppe für entsorgte Eltern und Großeltern“.
Bei Scheidungen verlieren Kinder oft auch Großeltern
Kaffee und Kuchen stehen be- reit, der Tisch ist nett zurechtge- macht. Die Begrüßung unterei- nander ist herzlich. Doch die Ge- schichten, die jeder Einzelne hier erzählen kann, sind keine Kaffee- kranzplauderei. Sie gehen tief. Es sprechen Väter, deren Kinder sich entfremden, Mütter, denen das Sorgerecht entzogen wurde, Großeltern, die sich gerne küm- mern wollen, aber nicht dürfen. „Den größten Anteil machen die Großeltern aus, deren Söhne ge-
schieden sind und keinen Um- gang mit ihren Kindern haben dürfen. Diese Kinder verlieren oft die gesamte Familie ihrer väter- lichen Seite“, berichtet Dorette Kühn, die die Gruppe mitorga- nisiert und selbst eine Zeitlang keinen Kontakt zu ihren Enkel- kindern haben durfte. „Während dieser Zeit bin ich zu Gruppen- treffen nach Braunschweig ge- fahren und da habe ich erfahren, wie gut mir die Gemeinschaft ge- tan hat.“ Das müsse es auch bei uns geben, sei ihr Gedanke gewe- sen und so gründete sie gemein- sam mit Peter Witkowski, einem „entsorgten“ Vater, die Gruppe in Lüneburg.
Unter den betroffenen Groß- eltern gibt es häufig Menschen wie Marianne Winter, die lange für die Familie gesorgt haben, bis der Kontakt jäh abgebrochen wurde. Es gibt Fälle, in denen die Großeltern Erziehungs- oder Be- strafungsmethoden kritisierten und danach geschnitten wurden. Und es gibt solche, in denen die Kinder vom Jugendamt in Obhut genommen wurden und dadurch der Kontakt abbrach.
„Ein Bindungsabbruch be- deutet immer Dauerstress für das Kind“, sagt die Psychologin Andrea Jacob, die selbst darum kämpft, Kontakt zu ihren Enkel- kindern haben zu dürfen. Dieser Dauerstress führe zum Beispiel zu Konzentrations- und Schlaf- störungen und ständiger Un- ruhe bei den Kindern. „Unwei- gerlich führt dieser Dauerstress auch zu körperlichen Schäden“, betont Jacob. „Wir bezeichnen Bindungsabbruch und gezielte Entfremdung ganz klar als psy- chische Gewalt“, ergänzt Doret- te Kühn. Deshalb versucht die 60-Jährige, den Blick von der Betroffenheit der Teilnehmenden auf die Kinder zu richten.
„Erwachsene entscheiden, aber das Kind hat das Recht“, sagt Hans-Christian Prestien, „und zwar das Grundrecht auf
Zeit mit den Enkelkindern verbringen – das machen viele Großeltern gern. Nur leider dürfen es nicht alle.
Foto: kna-bild
viele Betroffene, das können ja nicht alles schlechte Menschen sein.“
Dorette Kühn hat heute wie- der regelmäßigen Kontakt zu ihren Enkelkindern. „Ohne die Gruppe und ohne meinen christ- lichen Glauben hätte ich das nicht durchgestanden“, sagt die 60-Jährige. Und deswegen macht sie weiter mit der Selbst- hilfegruppe: „Wenn man hierher kommt, in die Gruppe, dann ist das wie eine Gesprächstherapie. Und man hat etwas getan. Und das ist es: Man muss etwas tun, dann geht’s einem besser.“
Informationen und Kontakt zu Gruppen: www.entsorgte-eltern- und-grosseltern.de
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Die Initiatoren der „Selbsthilfegruppe für entsorgte Eltern und Großeltern“:
Peter Witkowski und Dorette Kühn
Leute
Der syrisch-deutsche Schrift- steller Rafik Schami (68) erhält den mit 10 000 Euro dotierten Preis der ökumenischen Stiftung „Bibel und Kultur“. Sein Werk sei in besonderer Weise von seiner Herkunft aus einer der frühen Stätten des Christentums geprägt, heißt es in der Begrün- dung der Deutschen Bibelge- sellschaft. Mit großem Erfolg habe der christliche Aramäer es geschafft, „durch seine litera- rischen Arbeiten die arabischen Traditionen des Erzählens in
Foto: Kirsten Westhuis
Deutschland neu heimisch zu machen“. Der Preis wird im Rah- men des Evangelischen Kirchen- tages in Stuttgart am 4. Juni bei einer Abendveranstaltung mit Lesung und Gespräch verliehen.
Baden-Württembergs Minister- präsident Winfried Kretschmann (66) sieht sich als einen Suchen- den. In einem Interview der „Zeit“ sagte der aktive Katholik, der Mensch sei nicht fürs Glück gemacht, sondern zur Freiheit berufen. „Das ganze Glücksgere-
beide Eltern.“ Prestien ist Rich- ter im Ruhestand und hat früher am Familiengericht gearbeitet. Auch er kennt diese Geschich- ten, die in der Selbsthilfegrup- pe erzählt werden: Wenn mit dem Gang zum Jugendamt alles schlimmer wurde. Wenn sich El- tern und Großeltern ausgeliefert und falsch beurteilt fühlten. Ei- nige, die in der Selbsthilfegrup- pe in Lüneburg sprechen, haben das Vertrauen in den Rechtsstaat verloren. „Es erinnert an Glücks- spiel. Es hängt ganz stark von den beteiligten Personen ab,“ kri- tisiert selbst Hans-Christian Pres- tien das Verfahren in Umgangs- und Sorgerechtsfragen. System- fehler, sagt er. Jugendamtsmitar- beiter hätten schlechte Arbeitsbe- dingungen, Familienrichter und Verfahrensbeistände seien nicht psychologisch ausgebildet.
Hans-Christian Prestien holte sich als Familienrichter Unter- stützung von erfahrenen Psycho- logen und begann, die Familien zu Hause zu besuchen. „Ein Rich- ter muss sich berührbar machen und dahin gehen, wo das Kind ist.“ Dann zeige sich nämlich der Wunsch des Kindes: „Das Kind will meistens beide Eltern behal- ten.“ Familie ende nicht, wenn die Eltern sich trennen. Der Rich- ter könne den Eltern verdeutli- chen, dass sie gemeinsam für das Kind verantwortlich seien und
de finde ich einen Irrweg.“ Wer Glück für den Normalzustand halte, könne vom Leben und von der Politik nur enttäuscht wer- den. Aus seinem Selbstverständ- nis als Christ zieht der Grünen- Politiker die Konsequenz, dass er die Welt nicht retten könne, aber auch nicht müsse. „Erlösung
ist etwas für den Erlöser – und davon gibt es für Christen nur einen, und der sitzt im Himmel.
Tine Wittler (41), Fernsehmo- deratorin, wünscht sich mehr kritische Distanz zum gängigen Schönheitsideal. Schön sein, bedeute für sie, „offen sein, to- lerant und fähig, die Perspektive zu wechseln“, sagte Wittler bei einer Veranstaltung der Kontakt- und Beratungsstelle Selbsthilfe des Landescaritasverbands in Vechta. „Ist es wichtiger, Größe 38 zu haben oder sich beispiels-
gemeinsam zu konstruktiven Lö- sungen finden müssten. An vie- len Familiengerichten wird heute nach dem sogenannten Coche- mer Modell gearbeitet. Dabei geht es genau darum: beide El- ternteile in die gemeinsame Ver- antwortung bringen, Bindungs- abbrüche vermeiden. Außerhalb des Gerichtssaales findet Media- tion statt, und so können manche Umgangsbeschlüsse überflüssig gemacht werden.
Das Recht der Kinder muss im Mittelpunkt stehen
Dennoch müsse politisch et- was geschehen, fordert Hans- Christian Prestien. Die Kinder sollten noch viel stärker in den Mittelpunkt gestellt werden. „Kinderrechte müssen in die aufgenommen wer- den“. Und er regt eine unabhän- gige politische Institution an, die Gesetze auf ihre Kinderfreund- lichkeit überprüft.
Die Teilnehmenden der Selbst- hilfegruppe in Lüneburg haben leidvolle Erfahrungen mit Jugend- ämtern und Gerichten gemacht, die zum Trennungsschmerz hin- zukommen. „Wir tauschen uns aus, wir lernen voneinander“, sagt Dorette Kühn. Hin und wie- der laden sie Referenten zu ih- ren Treffen ein und haben Mahn- wachen oder Demonstrationen
weise für andere einzusetzen?“, so die Autorin des Dokumen- tarfilms „Wer schön sein will, muss reisen“ über ihre Reise nach Mauretanien 2011. In dem afrikanischen Land gelten dicke Frauen als schön. Die Mästung mit Kamelmilch, die daher schon teils an kleinen Mädchen prakti- ziert werde, sei ebenso abzuleh- nen wie der Schlankheitswahn hierzulande, so die Autorin. Frauen sollten sich generell über- legen, wofür ihr Körper da sei.
organisiert, um auf das Thema der „entsorgten Eltern und Groß- eltern“ aufmerksam zu machen. „Wir wollen nicht nur jammern, sondern uns auch weiterbilden und aktiv werden“, betont Kühn.
Das Treffen an diesem Sams- tag geht bis spät in den Abend hinein. Es gibt viel Redebedarf. Doch Marianne Winter war sehr still während des ganzen Tref- fens. Ihre Geschichte ist eine oh- ne Gerichte, ohne Sorgerechts- streitigkeiten, ohne viele Worte. Aber mit einem großen Schwei- gen. „Die Treffen geben mir ein bisschen Kraft und sie zeigen mir, dass ich nicht schlecht und böse bin. Das denke ich ja manchmal, nach all den Jahren, dass ich die Böse sein muss. Aber es gibt so


Zeitung: Neue Osnabrücker Zeitung (?) Nummer: 15

Zuletzt geändert am 19.04.2015 um 20:35

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