Keine Anordnung der Doppelresidenz, wenn es ein Elternteil an der notwendigen Loyalität gegenüber dem anderen Elternteil fehlen lässt


BGH
Aktenzeichen: XII ZB 512/18 vom 27.11.2019
Veröffentlicht in

 

Tenor / Inhalt der Entscheidung

Leitsätze des Bundesgerichtshofes:

  1. Die gerichtliche Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf einen Elternteil hat keine Bindungswirkung hinsichtlich einer späteren Entscheidung zum Umgang und der sich dabei stellenden Frage, ob ein paritätisches Wechselmodell anzuordnen ist (Fortführung von Senatsbeschluss BGHZ 214, 31 = FamRZ 2017, 532).
  2. Die Entscheidung zum Umgang richtet sich in diesem Fall als Erstentscheidung nach §§ 1684, 1697 a BGB und unterliegt nicht den einschränkenden Voraussetzungen einer Abänderungsentscheidung gemäß § 1696 Abs. 1 BGB.
  3. Der Anordnung eines Wechselmodells kann entgegenstehen, dass der dieses begehrende Elternteil es an der notwendigen Loyalität gegenüber dem anderen Elternteil fehlen lässt. Ein gegenläufiger Wille des Kindes ist nicht ausschlaggebend, wenn dieser maßgeblich vom das Wechselmodell anstrebenden Elternteil beeinflusst ist.

 

Nach der Trennung der Eltern 2013 wurde der Mutter 2014 das Aufenthaltsbestimmungsrecht übertragen, worauf hin diese aus dem bisherigen Familienheim auszog und in einen nahegelegenen Ort umzog.

Der Vater erstrebte die Doppelresidenz im Wege einer Sorgerechtsentscheidung. Das Amtsgericht eröffnete von Amts wegen auch noch ein Umgangsverfahren. Hier wurde vom Amtsgericht und später auch vom Oberlandesgericht eine umfangreiche Umgangsregelung getroffen, welche jedoch nicht den Umfang einer (paritätischen) Doppelresidenz erreichte.

Vor dem BGH wollte der Vater die Anordnung der Doppelresidenz durchsetzen.

Der BGH stellte fest, dass das Oberlandesgericht zu Unrecht von der Annahme ausgegangen sei, dass die Entscheidung zum Umgangsrecht eine Abänderungsentscheidung sei.

„Bei Sorge- und Umgangsrecht handelt es sich nach der gesetzlichen Systematik um eigenständige Verfahrensgegenstände.“ (Rz14)

„Sorge- und Umgangsrecht unterliegen dementsprechend verfahrensrechtlich der eigenständigen Behandlung, wie es von den Vorinstanzen auch praktiziert worden ist. Entsprechend entfaltet die im jeweiligen Verfahren erlassene Entscheidung keine übergreifende Bindungswirkung auch für den anderen Verfahrensgegenstand.“ (Rz14)

Und weiter wurde ausgeführt:

„Zudem ist schon die Prämisse des Oberlandesgerichts nicht haltbar, dass mit der Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf einen Elternteil zugleich notwendigerweise die gerichtliche Entscheidung für ein Residenzmodell verbunden sei“. (Rz15)

Die Entscheidung sei daher nicht am Maßstab des §1696 BGB, sondern am (niedrigeren) Maßstab des §1684 BGB zu messen.

Trotzdem sei die Entscheidung des OLG Frankfurt letztendlich zum richtigen Ergebnis gekommen.

Der Anordnung der Doppelresidenz stehe entgegen, dass nach den angestellten Ermittlungen der Vater es weniger als die Mutter vermöge, die Bindung der Kinder an beide Eltern zu respektieren (Rz 26). Insofern sei die Erziehungseignung des Vaters eingeschränkt. Er ziehe die Kinder in den Elternkonflikt hinein und setze sie damit einem verstärkten Loyalitätsdruck aus. Der Vater lasse es auch an der notwendigen Loyalität zur Kindesmutter als dem anderen Elternteil fehlen (Rz 29).

Das Oberlandesgericht sei daher zu Recht davon ausgegangen, dass dem geäußerten Kindeswillen keine ausschlaggebende Bedeutung zuzumessen sei.

Die Entscheidung sei in Übereinstimmung mit der Einschätzung von Jugendamt, Gutachten und Verfahrensbeistand erfolgt.

 

Kommentar von doppelresidenz.org

Die Entscheidung und die mit ihr verbundene Parallelentscheidung zum Sorgerecht verdeutlichen wieder einmal ein rechtliches Dilemma: Die Trennung in Sorge- und Umgangsrecht, welche spätestens bei der Frage der Doppelresidenz an ihre Grenzen stößt.

Die Gerichte konnten sich im Moment allerdings nur an die gesetzliche Regelung halten. Völlig zu Recht führte der BGH daher aus (Rz 17):

Die Frage, ob es sinnvoll erscheint, durch eine gesetzliche Zusammenfassung der Verfahrensgegenstände von Sorgerecht und Umgangsrecht zu einem einheitlichen Verfahren die Gefahr widersprüchlicher Regelungen zu vermindern, ist rechtspolitischer Natur und kann sich schon deswegen im vorliegenden Verfahren nicht stellen.“

Der BGH hat aber zumindest klargestellt, dass eine vorherige, sorgerechtliche Entscheidung keine Vorfestlegung für ein später zu führendes Umgangsverfahren und damit für den heranzuziehenden Entscheidungsmaßstab (§1696 BGB) darstellt. Hier lag das OLG Frankfurt in seiner Annahme also falsch.

Der BGH hat noch einmal ausdrücklich klargestellt, dass die Doppelresidenz, genau wie die gemeinsame Sorge, nicht von einem Veto eines Elternteils abhängig ist (Rz 21). Auch die gemeinsame Sorge sei auch ohne Zustimmung anzuordnen, wenn diese „dem Kindeswohl nicht widerspricht“. In Bezug auf die Doppelresidenz sei diese anzuordnen, wenn diese „dem Kindeswohl im konkreten Fall am besten entspricht“ (Rz22).

Es wurden noch einmal eindrücklich die unterschiedlichen Maßstäbe der Kindeswohlprüfung vor Augen geführt (positive bzw. negative Kindeswohlprüfung), ohne auf den hierin liegenden, offensichtlichen Widerspruch zwischen Sorge- und Umgangsrecht einzugehen. So bleibt es (leider) auch in diesem Punkt dem Gesetzgeber überlassen, endlich für Klarheit zu sorgen.

Der BGH ist jedoch zu der Auffassung gelangt, dass das Ergebnis des OLG Frankfurt letztendlich trotzdem richtig ist, da die Sachlage auch am Maßstab des §1684 BGB keine Anordnung der Doppelresidenz zugelassen hätte.

Hierbei knüpfte er im Wesentlichen lediglich an seine bisherige Rechtsprechung an und übernahm damit auch die bisherigen Widersprüche in seinen Ausführungen.

So heißt es unter Rz23: „Beim Wechselmodell kommt hinzu, dass dieses gegenüber herkömmlichen Umgangsmodellen höhere Anforderungen an die Eltern und das Kind stellt, das bei doppelter Residenz zwischen zwei Haushalten pendelt und sich auf zwei hauptsächliche Lebensumgebungen ein- bzw. umzustellen hat“.

Diese Einschätzung ist realitätsfern (siehe unseren Faktencheck), da auch ein Kind, welches zu 30 oder 40% vom anderen Elternteil betreut wird, zwei Lebensmittelpunkte hat und diese auch so erlebt – durch die Betreuung in Alltag und Freizeit als prägende Merkmale. Eindeutig dürfte auch sein, dass Kinder auch in solchen Fällen, wie dem auch nun gerichtlich angeordneten Betreuungsmodell, sich auf zwei Lebensumgebungen einzustellen haben und zwischen diesen beiden Haushalten „pendeln“. Hier wäre es an der Zeit gewesen, dass der BGH seine starre Weltsicht, dass sich erst ab exakt 50% die Lebensrealität von Kinder schlagartig ändern würde, aufgegeben hätte.

Äußerst bedenklich ist auch folgende Festlegung des BGH:

Bei Kindern im Jugendalter verringert sich ohnedies die gemeinsame Zeit von Eltern und Kind, weil die Kinder ihren Aktionsradius erweitern und für sie die mit Gleichaltrigen verbrachte Zeit bedeutsamer wird (Senatsbeschluss BGHZ 214, 31 = FamRZ 2017, 532 Rn. 28 f. mwN)“.

Damit postuliert der BGH einen allgemeinen, strikten Glaubenssatz, den Juristen ohne Differenzierung auf den Einzelfall anführen können. Diese Feststellung ist jedoch in dieser Absolutheit falsch. Sicher mag dies ein Prozess sein, der „häufig“, „öfter“ oder „in vielen Fällen“ zu beobachten ist. Von obersten Bundesrichtern hätte man hier aber mehr sprachliche Korrektheit erwarten müssen, sind ihre Worte doch Maßgeblich für die Amts- und Oberlandesgerichte.

Auch wurde erneut die Phrase vom erhöhten Abstimmungs- und Kooperationsbedarf aufgeführt, ohne dass dieser tatsächlich einmal dargelegt wurde. Wo der Mehraufwand zu einem erweiterten Umgang liegen soll, erschließt sich nicht, oftmals ist er sogar geringer, zumal im vorliegenden Fall durch den zusätzlichen Tag unter der Woche doppelt so viele Wechsel zu bewältigen sind wie in der paritätischen Doppelresidenz.

Ähnlich sieht es auch mit der Frage von Konflikten aus (Rz24):

Bei bestehender hoher elterlicher Konfliktbelastung wird das Wechselmodell dagegen in der Regel nicht dem Kindeswohl entsprechen. Denn das Kind wird dann durch vermehrte oder ausgedehnte Kontakte auch mit dem anderen Elternteil verstärkt mit dem elterlichen Streit konfrontiert und gerät durch den von den Eltern oftmals ausgeübten "Koalitionsdruck" in Loyalitätskonflikte“.

Es ist sicherlich unbestritten, dass Kinder unter dem Streit ihrer Eltern leiden und in Loyalitätskonflikte geraten. Dies gilt grundsätzlich erst einmal unabhängig vom Betreuungsmodell (siehe Praxis-Tipp Doppelresidenz und Streit der Eltern). Wenn der Streit von beiden Eltern ausgeht, dann bietet das Residenzmodell leider die schicksalhafte Ausgangslage, den Loyalitätskonflikt der Kinder zugunsten eines Elternteils zu vergrößern. Damit steigt die Gefahr vom Entwicklungsstörungen der Kinder und die Wahrscheinlichkeit einer Eltern-Kind-Entfremdung in erheblichem Maße an. Gerade in strittigen Situationen, in denen beide Eltern zum Streit beitragen, wäre die Doppelresidenz die am wenigsten schädliche Betreuungsform und würde den Schaden für die Kinder zumindest eingrenzen. (vergl. Entscheidung des OLG Bamberg Doppelresidenz ist anzuordnen, wenn sie dem Prinzip der Schadenminderung entspricht)

Jeglicher fachlichen Grundlage entbehrt auch ein weiteres, durch den BGH getragenes, Dogma:

Jedoch erscheint die Anordnung des Wechselmodells grundsätzlich ungeeignet, die im Konflikt befangenen Eltern dadurch zu einem harmonischen Zusammenwirken in der Betreuung und Erziehung des Kindes zu veranlassen.

Richtig ist, dass die Doppelresidenz nicht alle Probleme lösen kann. Es wurde jedoch mehrfach wissenschaftlich belegt, dass die Doppelresidenz im Vergleich zur – hier vom BGH bevorzugten – Einzelresidenz deutlich bessere Perspektiven zur Deeskalation und Kooperation bietet. Es ist sehr bedauerlich, dass sich selbst der BGH weiterhin belegbaren Fakten entzieht und lediglich seine eigenen Fehleinschätzungen fortschreibt. Dies erinnert leider zunehmend an die Diskussion „die Erde ist eine Scheibe“ und ist kindeswohldienlichen Entscheidungen abträglich. Dass der BGH seine Einschätzung noch mit dem Attribut „grundsätzlich“ untermauert, verschlimmert die Fehleinschätzung noch zusätzlich.

Dass der BGH letztlich die Entscheidung des OLG Frankfurt, die Doppelresidenz nicht anzuordnen, bestätigt, ist jedoch nachvollziehbar.

Gutachter als auch Verfahrensbeistand und Jugendamt teilten übereinstimmend die Einschätzung, dass der Vater versuche, den Willen der Kinder für seine Interessen zu beeinflussen und er es damit sein, der auch im Zusammenwirken mit weiteren Umständen, z.B. im Rahmen der Übergaben oder eigenmächtiger Verlängerungen der Umgänge, für zusätzliche Belastungen der Kinder sorge. Bei der Mutter wurden solche Verhaltensweisen nicht festgestellt.

In dieser Situation hätte die Anordnung der Doppelresidenz wohl tatsächlich zu einer höheren Belastung für die Kinder führen können, weshalb ein deutlicher geringerer Umgangs-Umfang angeordnet wurde, solange sich beim Vater noch keine Verhaltensänderung eingestellt habe.

Zu wünschen wäre, dass die hier vom BGH betonte Loyalitätspflicht gegenüber dem jeweils anderen Elternteil zukünftig noch deutlich stärker auch an Amts- und Oberlandesgerichten berücksichtigt wird. Allein der nachdrückliche Hinweis, dass Gerichte die Anforderungen der aus §1684 (2) Satz 1 BGB erwachsenen Loyalitätspflicht ernst nehmen, könnte zu einer nachhaltigen Deeskalation der Verfahren führen, sofern die Eltern hierzu in der Lage sind. Verfahrenstaktischen Eskalationen, welche heute noch folgenlos hingenommen werden, könnte so entgegengewirkt und die Kinder damit entlastet werden.

Dass in diesem Fall die Rechtsprechung trotz zahlreicher Fehler und Aufrechterhaltung bereits widerlegter Dogmen zu einem sachlich nachvollziehbaren Ergebnis gekommen ist, wirkt fast wie Zufall.

Neben dem bestehenden gesetzgeberischen Regelungsbedarf (Aufhebung der sachfremden Trennung von Sorge- und Umgangsrecht, Regelung der Rechtsfolgen der Doppelresidenz in allen betroffenen Rechtsgebieten wie Unterhalt, Sozialleistungen, Steuerrecht etc.) braucht es dringend einer erkenntnisbasierten Sicht der Rechtsprechung unter Einbeziehung bestehender, wissenschaftlicher Erkenntnisse und die Abkehr von unsubstantiierten Glaubenssätzen. Dies hat in anderen Ländern bereits zu einer deutlich „menschlicheren“ Rechtsprechung geführt, was Eltern und vor allem den Kindern zu wünschen wäre.

Letztendlich würde es auch das Vertrauen in die Rechtsprechung stärken, welche insbesondere in Bezug auf die Rechtsprechung rund um die Doppelresidenz bisher weit überwiegend kläglich versagt hatte. Die Entscheidung des BGH im Februar 2017 war hierfür ein trauriger Beleg und stellte entgegen der bis dahin geltenden Einschätzung nahezu der gesamten amts- und obergerichtlichen Rechtsprechung Sachverhalte klar, welche oftmals selbst bis auf Ebene des EGMR lange geklärt waren.

Der Appell lautet daher: ein Ende der juristischen Dogmen – und der (neue) Aufbruch zu einer menschlicheren Rechtsprechung.

 

Hier bleibt zu wünschen, dass Familienrichter auch die hierfür notwendige Aus- und Fortbildung sowie Unterstützung aus den anderen Fachprofessionen erhalten. Solange sich der Gesetzgeber weiterhin seiner Verantwortung entzieht, sind die Richter gefordert, hier im Sinne der Kinder selbst aktiv zu werden.

Eines lassen die gerichtlichen Entscheidungen weiterhin offen und können es unter den heute bestehenden Rahmenbedingungen auch nur eingeschränkt leisten: wie kann die Belastung für die Kinder, die ja trotz der gerichtlichen Entscheidung weiterbesteht, zukünftig reduziert und beiden Eltern der Blick auf die Kinder ermöglicht werden?

Wie nach einer Operation bräuchte es hier noch Nachsorge und Rehabilitation für alle Beteiligten. Mit schließen des gerichtlichen Aktendeckels müsste dieser Prozess beginnen (oder fortgeführt werden). Insofern wäre ein noch besseres Zusammenwirken der verschiedenen Fachkräfte, wie es beispielsweise in der Cochemer Praxis erfolgte, ein sinnvoller Weg. Auch Australien oder Kalifornien praktizieren solche integrierten Modelle bereits erfolgreich.

 


Zuletzt geändert am 06.01.2020 um 12:08

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